Wenn Hygiene zum Volksgut Nummer 1 wird

15. Mai 2020 um 14:35 , Der AUDITOR
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SEEHEIM-JUGENHEIM. Die Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen erfordern viele Anpassungen in der Gastronomie und dem Einzelhandel, um den neuen Hygieneanforderungen gerecht zu werden. Mundus-Agri-Mitarbeiter Carsten Megow war 25 Jahre im Bereich Hygiene in der Lebensmittelindustrie tätig und teilt seine Erfahrungen und Einschätzungen mit.

Mundus Agri: Die Diskussion um Lockerungsmaßnahmen ist in voller Fahrt. Mahner und Befürworter der Lockerung stehen im besten Fall in reger Diskussion, zunehmend aber auch im Streit. Was kommt auf uns zu?
Megow: Zuerst einmal: viele weitere Diskussionen. Viele sehnen sich nach Ihrem gewohnten Leben. Familie und Freunde treffen, ausgehen, Kunst und Kultur erleben, im Urlaub ausspannen und den Alltag hinter sich lassen. Alles das hat die Corona-Pandemie verändert. Und hier ist nur unser Freizeitbereich genannt. Viele wurden auch beruflich aus der Bahn geworfen. Die Glücklicheren können von zu Hause arbeiten, aber viele Jobs sind gefährdet oder stehen vor dem Aus. Die entscheidende Frage ist meiner Meinung nach, wie weit können wir gehen, was muss noch warten. Das ist eine Gleichung mit vielen Unbekannten. 

Mundus Agri: Die meisten unserer Leser haben beruflich mit Lebensmitteln zu tun, in der Herstellung, im Groß- und Einzelhandel. Was muss man hier beachten?
Megow: Die entscheidende Aufgabe ist die weitere Ausbreitung des Virus zu verhindern. Dieses Ziel hat absolute Priorität. Im Umgang mit Lebensmitteln ist man per se zum Einhalten von Hygieneregeln verpflichtet. Ein gewisses Grundverständnis ist also mindestens vorhanden. Das Leben mit Corona stellt uns aber vor eine bisher ungekannte Aufgabe: Jeder ist für jeden verantwortlich. 

Mundus Agri: Das klingt erst einmal sehr allgemein…
Megow: Ja, ist es auch. Ich glaube fest daran, dass richtiges Handeln von drei Faktoren beeinflusst wird: Man sollte wissen, wie man es tut und – und das halte ich für wesentlich – warum man es tut. 

Mundus Agri: Das sind zwei Punkte. Was ist der Dritte?
Megow: Die objektiven Voraussetzungen müssen gegeben sein: Arbeitsabläufe, Arbeitsmittel, Prozesse usw. müssen so gestaltet sein, dass man tun kann, was man tun soll. Ganz platt gesagt: Wenn man eine Maske tragen soll, muss die auch da sein, genauso wie das Händedesinfektionsmittel und der Spender, die Personalplanung muss angepasst werden und vieles mehr. 

Mundus Agri: Was müssen Arbeitgeber konkret tun?
Megow: Arbeitgeber müssen alle Voraussetzungen schaffen, Mitarbeiter und Kunden vor einer Infektion zu schützen. Kontakte vermeiden, wo man sie vermeiden kann.  Homeoffice, Videokonferenzen statt physischen Meetings. Wir leben in einer digitalisierten Welt, das sollten wir nutzen wo es möglich ist. 

Mundus Agri: Ein Bäcker, Lagerist oder Verkäufer kann aber schlecht von zu Hause arbeiten…
Megow: Natürlich nicht. In diesen Fällen gibt es dann viele Punkte, die zu beachten sind. Vielleicht ein Beispiel: In einer Bäckereifiliale haben wir alles: Kundenkontakte, wenig Platz, Geldwechselprozesse, oft eine Vielzahl von Mitarbeitern in Teilzeit oder Minijobs – da kommen viele Menschen zusammen. Jeder Kontakt ist ein möglicher Übertragungsweg. Risikominimierung ist das A und O. Das fängt bei der Personalplanung an: Feste Teams die zusammenarbeiten sollten möglichst nicht wechseln. So verhindert man, dass im Falle einer Infektion die ganze Belegschaft in Quarantäne muss. Die Organisation am POS muss überdacht werden: Ist es notwendig, dass sich die Wege der Mitarbeiter ständig kreuzen oder kann man die Abläufe anders organisieren, z.B. ob man den Kunden „weitergibt“, von den Brotbackwaren zum Kuchen und dann zur Kasse. Ausreichend Einwegmasken oder auch mehrfach verwendbare, dazu klaren Regeln, wie Handhabung, Wechsel, Aufbereitung bzw. Entsorgung aussehen. Das Tragen von Masken, die Mund und Nase bedecken, trägt maßgeblich dazu bei, dass weniger Viren übertragen werden.  

Mundus Agri: Welche Masken sind die Richtigen?
Megow: Das Robert-Koch-Institut hat im März 2020 im Zuge der Covid-19-Pandemie Ausnahmeregelungen erlassen und Empfehlungen geändert. In den entsprechenden Schreiben wird der Begriff „Maske“ ja relativ weit gefasst. Grundsätzlich hilft jede selbstgenähte Maske besser als keine Maske. Auch die eigentlich nicht vorgesehene Wiederverwendung spielt hier eine Rolle. Ziel ist das vorhandene Material so gut wie möglich zu nutzen. Viren fliegen nicht einfach so in der Luft herum, sie sind immer in kleinste Wassertröpfchen eingeschlossen, die wir beim Atmen oder Sprechen, beim Husten und Niesen abgeben. Ein großer Teil dieser Aerosole wird durch Masken zurückgehalten.   

Mundus Agri: Ich sehe immer wieder Masken mit Ventilen. Die lassen ja die ausgeatmete Luft einfach raus…
Megow: Genau. Die Masken sind für den Schutz der anderen weniger bis gar nicht geeignet. Die Filterung der Luft wirkt hier nur beim Einatmen. Neben den selbstgenähten Masken sind 3-lagige Einmalmasken und die mit dem N95 Standard derzeit die beste Wahl. Hauptsache ist die richtige Verwendung: Mund und Nase bedecken, dichtanliegend und beim Abnehmen an den Gummibändern anfassen. Selbstgenähte Masken sollten regelmäßig, bestenfalls nach jedem Tragen, bei mindestens 70° gewaschen oder in Wasser ausgekocht werden. 

Mundus Agri: Was müssen die Mitarbeiter sonst beachten?
Megow: Wer krank ist oder sich krank fühlt, bleibt zu Hause. Die Hygieneregeln beim Niesen und Husten beachten. Abstand halten, da wo es geht. Auf Handschlag und Küsschen verzichten. In Supermärkten und Tankstellen wurden viele transparente Wände als „Spuckschutz“ installiert – ein guter Schutz gegen Aerosole. Genauso wie der Vollgesichtsschutz. Und da der Virus nicht nur über Tröpfchen, sondern auch als sogenannte Schmierinfektion übertragbar ist, müssen wir auf eine gute Hand- und Oberflächenhygiene achten. 

Mundus Agri: Geht das genauer?
Megow: Natürlich, und es muss klar und verständlich sein. Die Übertragung per Schmierinfektion kennt zwei Wege: von Mensch zu Mensch oder Mensch-Gegenstand-Mensch. Die möglichen Übertragungswege müssen identifiziert und Maßnahmen organisiert und in Reinigungsplänen beschrieben werden.

Coronaviren zählen zu den behüllten Viren, der Organismus schütz sich mit einer Fettschicht vor Umwelteinflüssen. Wenn man diese Schicht knackt hat man gewonnen. Hände und Oberflächen regelmäßig mit tensidhaltigen Reinigern bzw. Seife reinigen, immer dann, wenn es nötig ist, also wenn man möglicherweise Kontakt zum Virus hatte. 30 Sekunden beim Händewaschen einseifen und anschließend abspülen. Händedesinfektionsmittel, richtig angewendet, verbessern das Ergebnis nochmals um 2-3 Zehnerpotenzen. Auch hier ist die richtige Anwendung maßgebend. Für die hygienische Händedesinfektion ist in der Regel eine Einwirkzeit von 30 Sekunden vorgeschrieben. Während dieser Zeit muss ausreichend Desinfektionsflüssigkeit auf der Hand sein und verrieben werden. Geeignet sind hier alle Produkte, die mindestens als „begrenzt viruzid“ ausgewiesen sind. Das RKI gibt hier gute Informationen. Neben den in den Desinfektionsmittellisten von RKI und VAH (für Deutschland) verzeichneten Marken werden inzwischen auch Produkte, die nach modifizierter WHO-Empfehlung I und II hergestellt werden, empfohlen. Auch Oberflächen wie Türklinken, Klospülungen, Einkaufswagen, PIN-Panels usw. sollten vor jeder neuen Berührung durch Dritte dekontaminiert werden. 

Mundus Agri: Und Handschuhe?
Megow: Einmalhandschuhe sind in vielen Fällen sinnvoll. Man muss sich aber mit Handschuhen verhalten, als wenn man keine anhätte. Wer sich mit Handschuhen an die Nase greift und meint, alles wäre gut, hat etwas falsch verstanden.

Mundus Agri: Gibt es denn ausreichend Equipment für alle diese Maßnahmen?
Megow: Wir beobachten, dass Vieles besser wird. Da wo es eng wird entstehen neue Lieferketten. Engpässe gibt es aber nach wie vor, sowohl bei Rohstoffen wie Propanol und Ethanol für Händedesinfektionsmittel, als auch bei Spendersystemen. Bei Masken sind wir wohl auf einem guten Weg, aber noch nicht am Ziel. Wir dürfen nicht vergessen: Corona ist kein lokales Ereignis, sondern ein globales Problem. Über 7 Milliarden Menschen brauchen auf einmal dieselben Produkte. Das führt zu Engpässen, wenn gleichzeitig Produktionen ausfallen und Transportwege blockiert sind. Gut, wenn man dann in solchen Situationen auf ein Netzwerk zurückgreifen kann. Bei Mundus Agri haben wir einiges in Bewegung gesetzt, um hier die losen Enden neu zu verknüpfen. 

Mundus Agri: Wer hilft einem mit diesen ganzen Herausforderungen klarzukommen?
Megow: Hilfsangebote gibt es viele. Wenn ich meinen Computer anschalte stehen oft ganz oben aktuelle Infos und Empfehlungen der Behörden. Innungen und Verbände geben Gewerbetreibenden Hilfestellung. Oder Ihr Lieferant für Reinigungsmittel – das sind oft sehr gut geschulte Mitarbeiter. Auch bei Mundus Agri gibt es aus der Branche zahlreiche Anfragen. Als global agierende News Community Trading Platform ist es uns gelungen, Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel und Spender zu beschaffen, als diese in ganz Europa vergriffen waren. Unseren Service haben wir hier um ein Beratungsangebot ergänzt. 

Mundus Agri: Es gibt so viele verschiedene Meinungen und Informationen, werden die getroffenen Maßnahmen der schrittweisen Öffnung gerecht?
Megow: Dazu hat wohl jeder eine Meinung – ich natürlich auch. Oft wird gesagt, wir stehen noch am Anfang der Pandemie – das sehe ich ähnlich. Jetzt wird versucht zu testen, welche Schritte gegangen werden können und wie weit man sich wagen darf. Ich bin der Überzeugung, dass der Schutz des Lebens und der Gesundheit ganz oben steht. Die größte Gefahr sehe ich darin, dass die Menschen abstumpfen, sich sicher fühlen und nachlässig werden. Bei den Einschätzungen der Lage und den getroffenen Maßnahmen muss ich den spezialisierten Fachleuten vertrauen. Ich liebe auch „querdenken“ – aber wenn es brennt, hat die Feuerwehr das Sagen. 

Mundus Agri: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Megow.

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